Einwanderungsland:
Wir sind kein Einwanderungsland. Und wir können es auch nicht werden." 1989 sagte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) diesen berühmten und so falschen Satz. Er war aber nicht der erste Regierungschef, der das Thema ignorierte. Auch der Sozialdemokrat Helmut Schmidt, sein Vorgänger, sagte noch 1992: „Aus Deutschland ein Einwanderungsland zu machen, ist absurd."
Und das, obwohl schon seit den SOer-Jahren Millionen Menschen zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Die erste große Phase der Einwanderung begann am 20. Dezember 1955 mit einem Migrationsvertrag mit Italien. Diesem ersten sogenannten Anwerbeabkommen folgten weitere mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien, Jugoslawien und anderen Ländern. Die Verträge legten fest, dass die Menschen Deutschland nach zwei Jahren wieder verlassen. Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nannte man sie deshalb. Viele von ihnen wollten schnell Geld verdienen und dann wieder in ihre Heimat zurückkehren. Sie waren willkommen, aber man kümmerte sich nicht um sie. Integration? Nicht nötig für die kurze Zeit, dachten die meisten in Politik und Wirtschaft.
Aber schon bald wurde der Begriff Gastarbeiter zu einem Euphemismus. Für die Firmen war es nämlich ziemlich teuer, alle zwei Jahre wieder neuen Leuten ihre Maschinen erklären zu müssen. Und immer mehr Menschen holten ihre Familien nach. Viele wollten bleiben - und durften das ab 1964 auch. Neun Jahre später stoppte die Regierung die Anwerbeabkommen.Die zweite große Phase der Einwanderung begann 1989 mit dem Ende des Ostblocks. Aus Polen kamen besonders viele Menschen, aber auch aus Jugoslawien, nachdem dort 1991 der Krieg begann.
Nach dem Ende des Ostblocks wurden viele von diesen Ländern ab 2004 Mitglied in der Europäischen Union (EU). Das öffnete den deutschen Arbeitsmarkt ein paar Jahre später für Millionen Menschen aus dem früheren Ostblock. In der dritten großen Phase der Einwanderung kamen zwischen 2011 und 2021 rund 6,3 Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern nach Deutschland. Parallel dazu stieg auch die Zahl der Geflüchteten, be-sonders 2015/2016 aus dem Kriegsland Syrien und anderen Krisengebieten.
Die vierte Phase begann mit Russlands Krieg gegen die Ukraine. Nie zu-vor seit 1945 sind so viele Menschen in so kurzer Zeit nach Deutschland gekommen: 1094 563 waren es Ende 2023.44 Prozent wollen bleiben -manche ein paar Jahre, die meisten aber für immer. Es ist wie in jeder dieser vier Phasen: Ein Teil bleibt - und die Gesellschaft ändert sich: Inzwischen hat einer von vier Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund.
Deutschland, kein Einwanderungsland? Diese Republik ist nicht nur irgendein Einwanderungsland, sondern das zweitgrößte Migrationsziel der Welt - nur die USA sind noch gefragter. Und fast 70 Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen entwickelt es, ganz langsam, was ein modernes Einwanderungsland braucht: eine Willkommenskultur. Ob sie 75 Jahre nach diesem Vertrag wirklich im Denken angekommen sein wird?