In der chinesischen Heidegger-Forschung ist momentan überall von Transzendenz (超越) die Rede. Es scheint ein neuer Trend zu sein. Dieser Trend führt meines Erachtens zu mehr Unverständnis。
Woher diese Vorliebe für das Wort 超越 kommt, kann ich nur erahnen. Ich weiß, dass es Parallelen gibt zur (chin.) Husserl-Forschung ("immanente Transzendenz"); und selbst in der chinesischen Philosophie wird von Transzendenz gesprochen. Meine Kollegen meinten, diese Vorliebe sei ganz natürlich, weil "Transzendenz" für Heidegger selbst besonders wichtig wäre.
Aber ist das so? Stimmt das?
Jein! (ja und nein)
Beim frühen Heidegger ist das Wort noch eng mit der scholastischen Transzendentalienlehre (unum, verum, bonum) verbunden. Bei den Neokantianern und bei Husserl hat es Heidegger immer wieder mit dem erkenntnistheoretischen Transzendenz-problem zu tun, bei Scheler (und Husserl) taucht das Problem der Transzendenz der Mitmenschen auf und immer wieder wird Bezug genommen auf die Idee der Transzendenz Gottes.
Im Kontext von Sein und Zeit (wenn der Einfluss Kants wächst) ist es nicht mehr nur das erkenntnis-theoretische Transzendenzproblem (die Transzen-denz der "Außenwelt"). Heidegger spricht jetzt von der Transzendenz des Daseins und sagt sogar vom Sein, es sei das "transcendens schlechthin" (GA 2, 38).
Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Erkenntnisproblem (Transzendentalität des Daseins wird als faktische Transzendentalität konzipiert) findet in den Kant-Texten statt, und Heideggers eigenes Verständnis der Transzendenz des Daseins wird dann ausgearbeitet vor allem in "Vom Wesen des Grundes" (1929) und fast zeitgleich in den Vorlesungen GA 26, GA 27 und GA 29/30.
Nun taucht der Begriff "Transzendenz" beim späten Heidegger aber kaum noch auf. Woran liegt das?
In den Beiträgen wird die Frage nach der Transzendenz bereits sehr abschätzig behandelt und von der Grundfrage nach dem Seyn abgegrenzt. Heidegger hat demnach Gründe, den Begriff "Transzendenz" nicht mehr zu verwenden.
Was sind die Probleme mit dem Begriff "Transzendenz" (超越)?
1. Vieldeutigkeit:
Der Begriff "Transzendenz" hat unzählige verschiedene Bedeutungen, die sich geschichtlich wandeln. Wir nannten bereits vier verschiedene Bedeutungen, womit aber noch überhaupt nicht auf das Problem der Deutung eingegangen ist. Was heißt "Transzendenz des Daseins"? Was bedeutet die (schlechthinnige) "Transzendenz des Seins"? In welcher Weise sind uns Mitmenschen transzendent? Sind sie in der selben Weise transzendent wie Dinge? Ist die Transzendenz Gottes etwas ganz anderes? Was ist "immanente Transzendenz"? Und - wie steht es um das verwandte Wort "transzendental"?
Vor einigen Monaten gab es in China eine Vorlesungsreihe über den Begriff "Transzendenz (transzendental)". Das zeigt uns, dass überhaupt keine Eindeutigkeit herrscht. Selbst wenn wir unsere Verwendung auf die Philosophie Heideggers einengen, ist die Frage, wie Heidegger "Transzendenz" versteht, selbst eine sehr komplizierte Forschungsfrage. Am wichtigsten ist es zu betonen, dass Heideggers Begriffsverwendung grundsätzlich verschieden ist von der anderer Philosophen.
2. Inhaltliche Probleme
Es kommen Probleme inhaltlicher Natur hinzu, die damit zu tun haben, dass die Verwendung des Wortes "Transzendenz" zugleich Festlegung ist auf eine bestimmte Art des Denkens.
Ich bin der Meinung, dass man dem ersten Problem durch gründliche Arbeit noch Herr werden könnte. Wer gründlich Heidegger studiert, wird wissen, wie Heidegger diesen Begriff verwendet und was dieser Begriff meint (keine Selbstverständlichkeit, ich sehe viele Deutungspro-bleme in chinesischen Texten). Das zweite Problem ist das eigentliche Problem. Es gibt Probleme mit dem Wort selbst, die uns zwingen, es nicht zur Erläuterung von Heideggers Philosophie zu benutzen.
Das hängt damit zu tun, dass Heidegger es selbst in einem ganz bestimmten Sinne verwendet. Die Benutzung des Begriffes müsste deshalb immer ergänzt werden durch eine Erläuterung ("Heidegger versteht unter 'Transzendenz' dies und das..."). Fehlt diese Erläuterung, sind Missverständnisse unvermeidbar.
Es hängt aber auch damit zusammen, dass Heideggers Philosophie eine Entwicklung durchläuft (die berühmte "Kehre"). Heidegger sah, dass das Festhalten am Begriff "Transzendenz" gleichzusetzen wäre mit einem Steckenbleiben. Wer weiterhin den Begriff "Transzendenz" verwendet, manövriert sich in eine Sackgasse.
Das transzendenzhafte Vorstellen verlassen; es verwandeln in das ereignishafte Denken - darum geht es Heidegger. Dieser Schritt wird vorbereitet in "Vom Wesen des Grundes", wo Heidegger von der Transzendenz als "Urgeschichte des Daseins" spricht (in GA 27 spricht Heidegger noch von einem "expliziten Transzendieren"!). Der Schritt wird vollzogen in "Vom Wesen der Wahrheit" (1930).
Die Zeit läuft mir davon. Ich kann die Kritik Heideggers nicht mehr im Detail ausführen. Ich möchte nur betonen, dass wir Heideggers Selbstkritik ernst nehmen müssen. Wenn Heidegger den Begriff "Transzendenz" fallenlässt und kritisiert, dann müssen wir diese Kritik wahrnehmen. Sonst ist die Begriffsverwendung unkritisch.
Schönen Sommer an alle!
康理